
Reisen ist längst mehr als Freizeitbeschäftigung – es ist ein Gradmesser unserer Zeit. Zwischen Klimakrise, Konsum und globaler Ungleichheit steht die Frage im Raum, wie viel Bewegung die Welt noch verträgt. In Steffisburg suchte der Reiseunternehmer André Lüthi gemeinsam mit Moderatorin Heidi Bühler-Naef nach Antworten: Was bedeutet verantwortungsvolles Reisen heute – und warum fällt es so schwer?
Der Video- und Audiopodcast dieser Veranstaltung folgen in Kürze.
André Lüthi ist vieles: Unternehmer, Abenteurer, Visionär – und jemand, der an das Reisen glaubt, wenn viele es gerade hinterfragen. Für ihn ist die Welt kein Freizeitpark, sondern ein Lernort. «Einmal sehen ist besser als tausendmal hören», sagt er. «Aber wer sieht, trägt auch Verantwortung.»
André Lüthi hat mehr als sechzig Expeditionen im Himalaya hinter sich, war in Nordkorea, im Iran und im Königreich Mustang. Wer ihm zuhört, merkt schnell: Er reist nicht, um Listen abzuhaken. Er reist, um zu verstehen – auch das Unbequeme.
Sein Leitsatz «Einmal sehen ist besser als tausendmal hören» klingt wie eine Einladung, kann aber auch eine Zumutung sein. Denn wer alles sehen will, muss aushalten, was er sieht: Armut, Widersprüche, politische Instrumentalisierung.
«Man muss hinsehen, sonst bleibt alles Theorie.»
André Lüthi
Als er Nordkorea mit einem «10 vor 10»-Team bereiste, wurde er dafür kritisiert, einem Regime eine Plattform zu bieten. Er verteidigt sich mit dem Argument der Aufklärung: «Man muss hinsehen, sonst bleibt alles Theorie.»
Das ist konsequent – und doch bleibt ein Spannungsfeld: Wann wird Hinschauen zu Voyeurismus? Wann kippt die Neugier in Selbstinszenierung? André Lüthi spricht von Ethik, aber seine vielen öffentlichen Auftritte zeigen auch, wie schmal dieser Grat ist.
André Lüthi kennt die Kehrseite des globalen Fernwehs. Er spricht offen über «Overtourism», über die Zerstörung durch die Massen, die das Schöne suchen und es dabei vernichten.
«Der Planet wird nicht grösser, aber die Mittelklasse in Indien und China schon», sagt er. Seine Lösung: klare Kontingente für Hotspots, weniger Werbung, mehr Lenkung. Am Blausee, den seine Firma betreibt, habe man das Marketing gestoppt. «Social Media erledigt das gratis. Wir müssen nicht noch nachhelfen.»
«Reisen kann man den Menschen nicht verbieten. Aber man kann es bewusster machen – und teurer.»
André Lüthi
Er fordert ein neues Verhältnis zum Reisen – weniger Bequemlichkeit, mehr Bewusstsein. Doch gerade er steht exemplarisch für eine Generation, die von der globalen Mobilität lebt. Seine Mahnungen klingen aufrichtig, doch sie tragen auch den Widerspruch in sich, dass ohne Flugreisen sein Geschäftsmodell kaum existieren würde.
André Lüthi widerspricht nicht: «Reisen kann man den Menschen nicht verbieten. Aber man kann es bewusster machen – und teurer.»
Reisen müsse wieder etwas wert sein, sagt André Lüthi. «Ich habe zwei Jahre gearbeitet für mein erstes Ticket nach London. Heute kostet der Flug weniger als ein Abendessen.»
Die Kompensation von CO₂ nennt er einen «Ablasshandel». Stattdessen solle das Geld in Forschung für saubere Technologien fliessen. Das ist pragmatisch gedacht, aber nicht ganz unproblematisch: Wer nur über Preissteigerung steuern will, grenzt aus – Reisen wird zum Privileg. Die moralische Balance bleibt schwierig: Wie viel Verantwortung trägt der Einzelne, wie viel die Branche, wie viel die Politik?
Trotzdem: Sein Appell trifft einen Nerv. Reisen soll wieder etwas bedeuten. «Wir sparen für Snowboards oder Handys, aber beim Fliegen darf es nichts kosten? Das ist falsch.»
Am eindrücklichsten ist André Lüthi, wenn er von Begegnungen erzählt. Von der Gastfreundschaft in Pakistan und Afghanistan. Von einem Tag in Ruanda, an dem er mit 200 Jugendlichen Zöpfe flocht. Von Nepal, seinem Herzensland, wo er ein Strassenkinderheim unterstützt.
«1’000 Franken im Jahr reichen, um ein Kind zu ernähren, auszubilden und medizinisch zu versorgen», sagt er. Einige der Kinder hätten später in Indien Medizin studiert und eine Klinik gegründet.
Solche Geschichten wirken ehrlich. Sie zeigen, dass Reisen mehr kann als inspirieren – es kann Beziehungen schaffen. Und doch bleibt auch hier die Frage: Wo endet Hilfe, wo beginnt Projektion? Wenn westliche Reisende Bildung und Arbeit finanzieren, prägen sie zugleich die Strukturen, die sie zu verbessern versuchen.
«Glück verpflichtet.»
André Lüthi
André Lüthi weiss das. «Ich hatte viel Glück im Leben», sagt er. «Aber Glück verpflichtet.»
Auch zur künstlichen Intelligenz hat André Lüthi eine klare Meinung. «KI ist ein Werkzeug. Mehrwert entsteht nicht durch mehr Maschine, sondern durch mehr Mensch.»
«Mehrwert entsteht nicht durch mehr Maschine, sondern durch mehr Mensch.»
André Lüthi
Er sieht die Digitalisierung als Unterstützung, nicht als Ersatz – eine Haltung, die sich auch auf das Reisen übertragen lässt. Maschinen können Routen planen, aber nicht Begegnungen spüren. «Emotion kann man nicht programmieren», sagt er.
Zum Schluss erzählt André Lüthi eine Szene aus Nordkorea: Eine achtspurige Autobahn, schnurgerade, ohne Verkehr. Sechs Stunden fährt er darauf, kein einziges anderes Auto. Später erfährt er, sie sei als Symbol gebaut worden – ein Zeichen der Stärke.
«Sie hatten keine Autos, aber eine Autobahn», sagt er. «Das war ihr Weg, der Welt zu zeigen: Wir sind auch etwas.» Ein absurdes, aber aufschlussreiches Bild für ein Land, das sich inszeniert, indem es Leere baut.
André Lüthi spricht über Reisen, als wäre es ein moralisches Projekt. «Reisen verändert uns», sagt er. «Aber nur, wenn wir bereit sind, uns verändern zu lassen.»
Das scheint der Kern seines Denkens: Verantwortung statt Flucht, Bewusstsein statt Beliebigkeit. André Lüthi erinnert daran, dass Reisen nicht moralisch perfekt sein kann – aber menschlich sinnvoll, wenn man es mit Respekt tut.
Weitere Veranstaltungen in dieser Reihe:
Montag, 17. November 2025, 19 Uhr im Offenen Höchhus: rUND um den Globus mit Simone und Florian
Donnerstag, 4. Dezember 2025, 19 Uhr im Offenen Höchhus: rUND um den Globus mit Corinne
Menschen erzählen von ihren Reisen – mit Bildern, Geschichten und Eindrücken aus aller Welt. Eine Veranstaltungsreihe für alle, die gerne zuhören, staunen und sich inspirieren lassen – organisiert von UND Generationentandem. Unterstützt wird die Reihe von der Raiffeisenbank Steffisburg.
