Religion – Wissenschaft oder Lebenssinn?

Religion – Wissenschaft oder Lebenssinn?

Eine Religionswissenschaftlerin und ein Gläubiger im Dialog über persönliche Erfahrungen, wissenschaftliche Distanz und die Suche nach Sinn.

Die Sicht von aussen

Viktoria Vitanova (32)

Obwohl ich Bulgarisch-Orthodox getauft und sozialisiert wurde, hat Religion in meiner Familie nie eine grosse Rolle gespielt. Meinen eigenen Zugang zu diesem faszinierenden Thema habe ich erst durch meinen Beruf gefunden. Ich bin Religionswissenschaftlerin. Nein, nicht Theologin, sondern Religionswissenschaftlerin – anstatt die Glaubensinhalte einer bestimmten Religion zu studieren, erforsche ich Religion im Allgemeinen als ein globales soziales Phänomen von grosser Bedeutung. Die Vielfalt religiöser Ausdrucksformen und ihre Bedeutung im Alltag vieler Menschen fasziniert mich bis heute.

Haus der Religionen: Ein Ort des Austauschs zwischen Glaubensrichtungen – und zwischen Glauben und Wissenschaft.
Bild: Stefan Anderegg, Haus der Religionen

Von Esoterik im sozialistischen Osteuropa und Buddhismus in der Schweiz, über evangelikale Motorbiker in Alaska und religiöse Werte und Normen in Computerspielen, bis hin zur Rolle von Religion in der Organspende, in der Musik oder im Krieg – die Religionswissenschaft versucht Religion in allen ihren Formen und Kontexten zu untersuchen.

Objektivität ist das, was ich als Religionswissenschaftlerin immer anstrebe – in dem vollen Bewusstsein, dass sie ein nie ganz zu erreichendes Ideal ist.

Viktoria Vitanova

Dabei ist die erste Regel: keine Werturteile. Ich als Person mit bestimmter kultureller Vorprägung darf ganz wohl eine persönliche Meinung haben und vertreten, aber ich als Forscherin muss immer eine gesunde wissenschaftliche Distanz zu dem Thema, das ich gerade untersuche, gewinnen und nicht eine Religion als richtiger, übergeordneter oder wichtiger als eine andere betrachten. Objektivität ist das, was ich als Religionswissenschaftlerin immer anstrebe, in dem vollen Bewusstsein, dass sie ein nie ganz zu erreichendes Ideal ist. Niemand ist komplett objektiv, aber die Bestrebung, alle Religionsformen (und ihre Anhänger:innen) mit dem gleichen Mass zu messen – unabhängig davon, zu welcher ich mich selbst zugehörig fühle – ist das, was mich als Religionswissenschaftlerin ausmacht.

In der Theorie klingt das alles gut, nur ist die Umsetzung nicht immer so einfach. Wir alle haben unsere Grenzen und Themen, zu denen es uns schwer fällt, emotionale Distanz zu gewinnen. Als ich für ein Forschungsprojekt hochrangige Mitglieder einer nationalistischen Partei interviewen musste, die religiöse Narrative instrumentalisiert haben, um sich gegen Migration, Pluralität, Demokratie, Frauenrechte und liberale Werte zu erklären, wurde ich mit Aussagen konfrontiert, die mit meinen eigenen Werten und Ansichten unvereinbar sind. In einer solch herausfordernden Situation wird die Bestrebung nach Objektivität und einem distanzierten Blick «von aussen» zu einer noch grösseren Herausforderung, als sie ohnehin schon ist. Dabei ist es wichtig, genau diese «schwierigen» und gesellschaftlich relevanten Themen zu bearbeiten. Darin verstehe ich meinen gesellschaftlichen Beitrag als Wissenschaftlerin.Viktoria Vitanova (32) bewegt sich zwischen Recht, Religion und Philosophie – am liebsten mit neugierigem Blick auf das Menschsein. Sie forscht, denkt und schreibt in Fribourg.

Ein persönlicher Zugang

Werner Kaiser (87)

Ursprünglich lebte ich in einer Religionsform mit klaren Vorgaben, im strenggläubigen Katholizismus. Glauben hiess, vorgegebene Wahrheiten annehmen. Ethik bestand weitgehend darin, Gebote von Bibel und Kirche einzuhalten. Als Kind war das für mich stimmig. Doch in den Jahren der Adoleszenz zerrten Philosophie und Naturwissenschaft an meinen Überzeugungen. Ich durchlebte eine Zeit voller Unsicherheit und Zweifel. Entscheidend wurde ein Moment totaler Ergriffenheit, die mich unerwartet und heftig mitten auf der Strasse in Paris überfiel. Ich spürte grosse Klarheit über meinen Weg und eilte in mein Zimmer, es aufzuschreiben.

Diese Erfahrung prägte mich für viele Jahre. Ich wusste nun, dass es neben der Klarheit der Vernunft auch eine andere, eine sinnstiftende Klarheit gibt, eine Klarheit, die ich nicht erarbeite, sondern die mir in der Form einer Intuition geschenkt wird. Seither ist mir Religion vor allem die Gewissheit, dass mein Leben von einer inneren Instanz sinnvoll geführt wird.

Kerzen: Für Werner Ausdruck einer spirituellen Gewissheit, für Viktoria ein Symbol unter vielen – Religion zwischen persönlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Betrachtung.
Bild: unsplash

Jesus hat mich seit meiner Kindheit geprägt. Ich bewundere seine Hinwendung zu den Armen und Ausgestossenen, seine Abwehr selbstgerechter Moral, seine Ethik der Grossherzigkeit. Ich finde diese Ethik treffend formuliert von Augustinus: «Liebe, und tu, was du willst». Sein grausamer Tod ist für mich Symbol für alle Unterdrückten und Ausgestossenen dieser Erde. Auferstehung bedeutet mir Hoffnung, dass auch im absurdesten System Sinn verborgen sein kann.

Seither ist mir Religion vor allem die Gewissheit, dass mein Leben von einer inneren Instanz sinnvoll geführt wird.

Werner Kaiser

Die christliche Theologie hat sich inzwischen gewandelt. Früher waren die biblischen Geschichten Erzählungen über wirklich Geschehenes, heute können wir sie als Mythen verstehen, die uns anregen und motivieren. Glauben bedeutete früher Bekennen feststehender Lehren, heute bedeutet er Offenheit für den alles übergreifenden Sinn. Früher war die Bibel verpflichtende Norm, heute hilft sie, die aktuelle Lebenssituation in einem grösseren Kontext zu deuten. Dieser Wandel entspricht meiner eigenen Entwicklung. Auch wenn ich den äusseren Strukturen und Angeboten der Kirche ziemlich entfremdet bin, fühle ich mich der eigentlichen Kirche nahe, den Millionen von Menschen, welche den Weg Jesu gegangen sind und gehen, die ihr Handeln von Grossherzigkeit und Liebe bestimmen lassen.

Ein Dialog

Werner Kaiser: Liebe Viktoria, mich interessiert, wieweit wir Religion überhaupt mit dem Verstand erfassen können. Ein unmusikalischer Mensch kann wohl Musikwissenschaft studieren, aber weiss er wirklich, was Musik ist?

Viktoria Vitanova: Lieber Werner, wir sind alle einzigartige Wesen, die die Welt sehr unterschiedlich mit unseren Sinnen, Emotionen und Verstand erfahren. Deswegen braucht es objektivierbare Kriterien, an denen wir unsere Erfahrungen vergleichen und vermessen können, sonst hätten wir keine Gesprächsbasis. Ich finde es hilfreich, Religion «von aussen» zu betrachten, denn so können wir religiöse Erfahrungen, die wir selbst nicht gemacht haben, wahrnehmen und beachten. Wie könnte man sonst die Mitmenschen und ihre individuellen religiösen Erfahrungen verstehen?

Werner: Am besten kann wohl ein Mensch verstehen, wovon ich rede, wenn er ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Du sagst von dir selber, du seiest nicht religiös. Aber Religion ist dir doch so wichtig, dass du sie zum Gegenstand deines Studiums wählst.

Religion ist einer der grössten Beweggründe für die Menschen – sie lässt kaum jemanden kalt.

Viktoria Vitanova

Viktoria: Das stimmt. Mein Interesse daran ist weniger persönlich-spirituell, sondern mehr anthropologisch. Ich interessiere mich für Menschen – was bewegt uns, warum handeln wir so und nicht anders, was bestimmt unser Leben? Und Religion ist einer der grössten Beweggründe für die Menschen. Religiöse, Unentschlossene oder Atheisten – Religion lässt kaum jemanden kalt. Deswegen finde ich sie so faszinierend, aber ich gebe dir Recht, die rein wissenschaftliche Perspektive auf Religion hat ihre Grenzen.

Werner: Für mich ist Religion ein zentraler Punkt meines Lebens. Sie hat mein Leben geprägt. Religiöse Erfahrungen haben immer wieder zu einer Kehrtwende im Leben geführt. Religion gibt meinem Tun und Denken Sinn.

Viktoria: Ich denke, vielen Menschen geht es so. Die religiösen Normen geben vielen Sicherheit, können aber auch Erwartungen schaffen und belastend wirken. Heute gehen viele von einem institutionellen zu einem individuellen Verständnis von Religion und Kirche über.

Im Gespräch: Zwei Perspektiven, ein Thema – Religion zwischen Glauben und Wissenschaft.
Bild: unsplash

Werner: Wenn ich so etwas wie eine Definition meines Glaubensverständnisses geben wollte, wäre es: Ergriffenheit und daraus erfolgendes Handeln. Wie definiert ihr in der Wissenschaft Religion?

Viktoria: Da kommen wir zu einem zentralen Punkt, denn diese Frage beschäftigt uns seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten. Viele Definitionen wurden vorgeschlagen, doch keine kann der religiösen Vielfalt gerecht werden. Für die Religionswissenschaft gibt es also keine erschöpfende Definition von Religion, sondern Arbeitsdefinitionen, die uns in der Forschung helfen. Hier muss ich zurück zu deiner ersten Frage kommen: Kann ein nichtmusikalischer Musikwissenschaftler wirklich wissen, was Musik ist? Ich denke, auch die musikalischen Musikwissenschaftler werden sich nicht einig sein, was Musik ist – sie wird für jeden etwas anderes bedeuten. So ähnlich ist es auch mit der Religion.

Werner: Das gefällt mir. Ob Musik oder Religion oder was immer uns bewegt, es ist mehr als unsere Beschreibungen. Definieren und Beschreiben ist hilfreich, aber das Leben ist immer bedeutender und umfassender.

Viktoria: Das stimmt, ich denke unabhängig vom Zugang bleibt immer ein Teil, den wir nicht begreifen oder erklären können. Aber das ist schön, denn wie langweilig wäre eine Welt, in der wir alles wüssten!

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