Was eine Hebamme und ein Bestatter über das Leben lehren

Was eine Hebamme und ein Bestatter über das Leben lehren

Was sagen die Menschen aus, die professionell mit Anfang und Ende des Lebens arbeiten? Im Generationentalk, moderiert von Tabea Keller, berichten eine Hebamme und ein Bestatter von Routinen, die nie routiniert sind – und von der Verantwortung, die sie dabei tragen.

Wenn Verena Piguet und Alessandro Ardu miteinander sprechen, begegnen sich zwei Berufe, die den Lebensbogen eines Menschen aufspannen: Geburt und Tod. Im Generationentalk, moderiert von Tabea Keller, geht es um Unsicherheiten, Verantwortung und darum, wie man Menschen an Momenten begleitet, an denen kaum etwas planbar ist.

Zwischen Normalität und Ausnahmezustand

Verena Piguet beschreibt ihren Alltag als Hebamme mit einem Grundsatz: «Wir müssen immer einen Schritt voraus sein.» Sie achtet darauf, ob eine Geburt im erwartbaren Verlauf ist oder ob sich etwas verändert. Besonders im Spital, wo Einleitungen oder Wehenmittel häufiger eingesetzt werden, erlebt sie die Situation komplexer. «Wenn wir viel manipulieren, wissen wir manchmal nicht, wie der Körper reagiert.»

Sie erzählt auch, wie wichtig Intimsphäre ist. Manchmal bittet sie Ärztinnen oder Ärzte aus dem Raum, wenn es noch nicht der richtige Moment sei. «Wir müssen unter uns sein», sagt sie – nicht aus Abgrenzung, sondern weil jede zusätzliche Person Druck erzeugen kann.

Alessandro Ardu spricht über individuelle Abschiedsformen, familiäre Dynamiken und die Aufgabe, in schwierigen Momenten Orientierung zu geben.
Bild: Hans-Peter Rub

Alessandro Ardu bewegt sich im anderen Extrem: dem Moment nach einem Todesfall. Auch er spricht von Situationen, die sich nicht steuern lassen. Angehörige kommen oft mit offenen Konflikten, die in der Trauer noch deutlicher hervortreten. «Ich bin Berater, nicht Verkäufer», sagt er. Seine Aufgabe sei es, Orientierung zu geben und gleichzeitig neutral zu bleiben. Wenn nötig, schlägt er vor, ein Gespräch zu unterbrechen und am nächsten Tag fortzusetzen.

Emotionen, die bleiben – und solche, die man nicht zeigen kann

Beide berichten von starken Gefühlen, die ihre Arbeit prägen.

Verena Piguet spricht über lange Geburten, die Unsicherheit, das Hoffen, die Erleichterung. «Wenn ich nach Hause gehe, bin ich sehr erschöpft. Am Tag danach merke ich, was das für ein Wunder war.» Die hormonelle Dynamik einer Geburt erfasst auch sie: Adrenalin, Oxytocin, Müdigkeit und Wachsein. Tränen gehören für sie dazu – sie hält sie nicht mehr zurück.

Als erfahrene Hebamme beschreibt Verena Piguet, wie Nähe, Emotion und professionelle Wachsamkeit in ihrer Arbeit zusammenkommen.
Bild: Hans-Peter Rub

Alessandro Ardu beschreibt seine Rolle anders. Auch ihn berühren viele Schicksale. «Auch ich bin ein Mensch», sagt er. Gleichzeitig versucht er, für Angehörige stabil zu bleiben. Ein persönliches Erlebnis erwähnt er klar: «Ich habe meinen Vater tot in der Wohnung gefunden.» In diesem Moment habe seine berufliche Haltung nicht gegriffen. «Das hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen.»

Eine Grenze zieht er bei der Begleitung des Sterbens. Eine Anfrage, als Zeuge bei einem begleiteten Suizid dabei zu sein, lehnte er ab: Das überschreite seine Rolle als Bestatter.

Wie sich Geburt und Bestattung verändern

Verena Piguet führt aus, wie sich die Geburtshilfe historisch verschoben hat – von der Hebammenbetreuung hin zur medizinisch geführten Geburt im Spital und nun wieder in Richtung einer Kombination. «Wir haben wieder den Platz bekommen, den wir früher hatten», sagt sie. Frauen könnten heute parallel von Ärztinnen und Hebammen begleitet werden.

Hebammen gehören zu den ältesten bekannten Gesundheitsberufen. Bereits im alten Ägypten und in der griechisch-römischen Welt gab es ausgebildete Geburtshelferinnen, die Geburtstechniken kannten und als zentrale Fachpersonen galten. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein waren Geburten in Europa fast ausschliesslich Hausgeburten, betreut von Hebammen und erfahrenen Frauen aus der Nachbarschaft oder Familie.

Mit der Aufklärung und der Entwicklung der Chirurgie entstand die sogenannte «Männergeburtshilfe». Ärzte begannen, Geburten medizinisch zu begleiten, und Instrumente wie die Geburtszange fanden Verbreitung. Im 19. Jahrhundert verlagerte sich die Geburt zunehmend ins Spital – auch als Reaktion auf hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit. Hebammen verloren vielerorts an eigenständigem Handlungsspielraum und wurden stärker in ärztliche Strukturen eingebunden.

Ab den 1970er- und 1980er-Jahren wuchs jedoch das Bedürfnis nach selbstbestimmter Geburt. Forschungsergebnisse zeigten, dass kontinuierliche Hebammenbetreuung Komplikationen reduzieren kann. Seither haben Hebammen in vielen Ländern – auch in der Schweiz – wieder mehr Verantwortung: Sie führen Schwangerschaftskontrollen durch, begleiten Geburten selbstständig und betreuen Wochenbetten. Geburtshäuser und Hausgeburten erleben seither eine stabile Nachfrage.

Sie erwähnt auch die Rolle von Doulas, die vor allem im Spital vermehrt angefragt werden. Oft liegt das daran, dass Hebammen nicht in ausreichender Zahl verfügbar sind, wenn viele Geburten gleichzeitig stattfinden.

Beleghebammen – also Hebammen, die Frauen durch die gesamte Schwangerschaft begleiten und im Spital auch die Geburt übernehmen – seien für viele Frauen ideal, aber selten: Die Arbeit verlangt hundertprozentige Abrufbarkeit.

Auch in der Bestattungskultur zeigt sich Wandel. Die sogenannte Aschenfreiheit in der Schweiz ermöglicht fast unbegrenzte Formen des Abschieds. «Die Leute kommen mit ihren Ideen», sagt Alessandro Ardu. Ob Heissluftballon, Berglandschaft oder klassische Erdbestattung – er setzt um, was Angehörige wünschen. Gleichzeitig erinnert er daran, dass eine Abdankung vor allem für die Hinterbliebenen ist und trotzdem zur verstorbenen Person passen soll.

Der Bestatterberuf hat sich stark verändert. Über Jahrhunderte waren Bestattungen Aufgabe der Angehörigen, ergänzt durch lokale Handwerker oder sogenannte Totenwäscherinnen, die Verstorbene wuschen und herrichteten. In vielen Regionen übernahmen später auch Würdeämter wie Totengräber, Mesmer oder kirchliche Angestellte die Organisation der Beerdigung.

Mit der Urbanisierung im 19. Jahrhundert entstanden kommunale Friedhöfe, und der Transport von Verstorbenen wurde komplizierter. In dieser Zeit entwickelten sich die ersten professionellen Bestattungsunternehmen, die Sargbau, Überführung, Aufbahrung und Organisation der Trauerfeier bündelten. Gleichzeitig wuchs der hygienische Anspruch, und gesetzliche Vorgaben zur Todesfeststellung und Kühlung führten zu einer klareren Professionalisierung.

Im 20. Jahrhundert veränderte die Einführung der Feuerbestattung die Branche erneut. Krematorien wurden verbreitet, und Bestatter übernahmen zunehmend die Beratung der Angehörigen – zu Formen des Abschieds, rechtlichen Fragen und Bestattungsmöglichkeiten. In der Schweiz prägt bis heute die sogenannte Eschenfreiheit die Praxis: Die Asche darf – im Rahmen kantonaler Vorschriften – an vielen Orten verstreut oder beigesetzt werden, was neue Abschiedsformen ermöglicht.

Heute umfasst der Beruf weit mehr als die Organisation der Beerdigung. Bestatterinnen und Bestatter begleiten Familien in Ausnahmesituationen, koordinieren zwischen Behörden, Kirchen, Friedhöfen und Krematorien und sorgen dafür, dass der Abschied den Wünschen der Angehörigen entspricht. Die Profession wird zunehmend als beratender Beruf verstanden – emotional, organisatorisch und kulturell.

Nach der Geburt: Nähe, Belastung und klare Warnsignale

Verena Piguet berichtet auch vom Wochenbett, das für viele Frauen anders aussieht, als sie es sich vorgestellt haben. Ihr Team kennt die Frauen bereits aus der Schwangerschaft und weiss, ob sie gut eingebettet sind oder möglicherweise isoliert leben. Dadurch werden Gespräche über Einsamkeit, Trauer, Sexualität oder depressive Verstimmungen selbstverständlich.

Sie beschreibt typische hormonelle Schwankungen nach der Geburt – Euphorie, dann ein starker Abfall. Vieles davon sei normal. Eine Grenze benennt sie jedoch unmissverständlich: «Es ist nicht normal, wenn eine Frau sich mehr und mehr abwendet vom Kind.»

Rituale, die Orientierung geben

Rituale spielen in beiden Bereichen eine Rolle:

Für Alessandro Ardu sind Rituale nicht per se wichtig, aber das Erinnern ist es. «Es braucht etwas, woran man sich erinnern kann.» Ob das Kerzen sind, ein Ort unter einem Apfelbaum oder eine schlichte Urnenbeisetzung: Entscheidend ist, dass die Angehörigen einen mentalen Anker haben.

Als Bestatter setzt Alessandro Ardu die Wünsche der Angehörigen um und betont, wie wichtig Rituale und Erinnerungsorte für Trauernde sind.
Bild: Hans-Peter Rub

Bei Verena Piguet ist das Ritual schlichter – und sehr persönlich: in der Kraft sein, bevor sie zu einer Geburt aufbricht. Früh genug angerufen werden, um die Frau nicht warten zu lassen, ausgeschlafen sein, den Raum mit Ruhe betreten. Ein Geburtsritual der Präsenz.

Ein Blick auf den Jahreswechsel

Zum Schluss fragt Tabea Keller beide, was Advent und Jahreswechsel für sie bedeuten. Für Verena Piguet ist es die Zeit der Dankbarkeit: «Dass jede Frau gesund ist und wir keine Totgeburt gehabt haben.»

Moderatorin Tabea Keller führt durch den Generationentalk und verbindet die Perspektiven von Hebamme und Bestatter.
Bild: Hans-Peter Rub

Für Alessandro Ardu ist der Dezember ein Widerspruch: eine sinnliche und zugleich stressreiche Zeit. Er versucht, die schönen Momente zu sehen und dankbar zu bleiben – und weiss doch: Am 1. Januar beginnt alles wieder von vorne.

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