
Zwei Wege nach Bern – von Kasachstan und aus der Türkei. Zwei Menschen, die in der Schweiz neu anfangen, weiterkämpfen und ankommen. Ihre Geschichten zeigen: Integration ist Herausforderung und Chance zugleich.
Freitag, 15.08.2025
Text: Viktoria Vitanova (32) und Heinz Gfeller (75)
Shokan Bekturganov ist einen weiten Weg aus Kasachstan bis ans Spital Thun gegangen. Was er darüber und vor allem von seiner Situation bei uns erzählt.
Am 17. März 2025 haben wir uns mit Shokan Bekturganov getroffen. Ein berührender Moment. Wir fanden uns einem Mann aus einer weit entfernten, unvertrauten Weltgegend gegenüber, der uns begrüsste, als kennten wir uns schon lange. Der dann mitten in seine Lebensgeschichte sprang – mit dem Grundton, wie gut er es bei uns getroffen habe. Er wirkte, auch wenn er seinen Arztkittel abgezogen hatte, in dem Spital-Café wie ein durchaus zugehöriger Mitarbeiter. Wie abenteuerlich hörte sich hingegen sein Werdegang an!
Geboren in der autonomen Republik Karakalpakstan im Westen Usbekistans, hat Shokan Bekturganov in vier Ländern gewohnt und gearbeitet. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und inmitten seines Medizinstudiums zog seine Familie nach Kasachstan um und er musste schnell Russisch lernen, um sein Studium in Almaty fortsetzen zu können. Zehn Jahre lang war er im dortigen Regionalspital als Urologe tätig. Neben dem ärztlichen Beruf musste er jedoch auch Fundraising betreiben, denn es gab im Spital nicht mal die nötigste Apparatur. «Es ist ein kompliziertes System» erklärt uns Shokan – «die staatlichen Gelder kommen nicht immer an».
Als er 2007 vier Monate in Jena auf Weiterbildung verbringt, öffnen sich neue Horizonte. Dank der besseren materiellen Lage lassen sich dort Operationen durchführen, die in Kasachstan unmöglich sind. So fällt es Shokan Bekturganov nicht schwer, 2014 seiner Frau, die ein Jobangebot in Kyiv (Kiew) bekommen hat, zu folgen. Nach einer sechsmonatigen Weiterbildung wurde dort sein Facharzttitel anerkannt, sodass er anfangen konnte zu arbeiten. Nach einem Zwischenstopp in Prag machten sich Shokan und seine Frau 2019 berufsbedingt auf den Weg in die Schweiz, wo ein neues Kapitel anfing.
Shokan Bekturganov ist ein freundlicher und ein initiativer Mensch. Aus allem, was er berichtet, sticht heraus: Du musst etwas tun. Du sollst nicht abwarten, sondern deine Chancen herausfinden und dort anpacken, wo sich’s anbietet, selbst wenn du unbekanntes Terrain betrittst. Soll ein ausgebildeter Urologe als Pfleger arbeiten – hier in der Schweiz? Ja! Dass er es getan hat, erklärt Shokan mit seinem «bäuerlichen Hintergrund»: Er hat seinerzeit auch Schafe gehütet. Du sollst dir für nichts zu gut sein …
Du sollst nicht abwarten, sondern dort anpacken, wo sich’s anbietet.
Shokan Bekturganov
Shokan Bekturganov wendet seine Erfahrungen auch für andere Menschen – in vergleichbaren Situationen – an, etwa für Ukrainer:innen, die in der Schweiz Fuss fassen wollen und denen er Stellen an Heimen vermittelt. Wer willig ist, dem kann man helfen.
Und es wird einem geholfen. Diese Erfahrung betont Shokan immer wieder. Er rühmt vieles am Schweizer System: Gemeindebehörden; das RAV; den Integrations-Kurs, den er absolvieren konnte; das duale Bildungssystem und die ständige Weiterbildung; das Fehlen von Hierarchie jetzt am Spital. In Kasachstan damals musste er für die Ausbildung viel bezahlen; und nach zwei Jahren reiner Theorie, als es erst an die Praxis ging, hatte er «alles vergessen».
Shokan Bekturganov hat von hiesigen Einrichtungen profitiert, war jedoch von Anfang an entschlossen, hier «beizutragen». Der ausgebildete Urologe hat mit 50 Jahren als Pfleger angefangen, hat dann im Spital Thun neun Monate als Unterassistent gearbeitet, bis er als Assistenzarzt anfangen durfte. «Es ist nicht so einfach, mit 52 alles neu zu lernen», sagt er lächelnd. Das Ziel hat er vor Augen: Mit ein bisschen Glück kann er in ein paar Jahren eine praktische Prüfung ablegen und seinen Facharzttitel in der Schweiz anerkennen lassen. In der Zwischenzeit singt er im Chor der Nationen in Bern und lernt Alphorn spielen. Langweilig ist es ihm nie.
Shokan bezeichnet sich und seine Frau als «Nomaden». Früher hatten sie nicht geplant, ins Ausland zu gehen. Doch mit ihrer Einstellung – «keine Angst haben, einfach machen» – schlagen sie sich durch die Welt. Nach Almaty, Kyiv und Prag dürfen die beiden Gümligen ihr Zuhause nennen, während ihre beiden Söhne in Toronto und Washington DC wohnen.
Gott sei Dank bin ich kein Geflüchteter, ich kann auch in meine Heimat zurückkehren. Ich bin dort ein Spezialist.
Shokan Bekturganov lässt die Zukunft auf sich zukommen und gibt das Bild von einem Menschen ab, der überall zurechtkommen würde. Trotzdem scheint er momentan dort zu sein, wo er sein möchte. Als wir uns verabschieden, zeigt er uns stolz seinen soeben erhaltenen C-Ausweis.
Fatma Aydin musste aus der Türkei flüchten. Nun lebt sie seit sieben Jahren mit ihrer Familie in der Schweiz und versucht an dem Leben anzuknüpfen, das sie einmal geführt hat.
Fatma Aydin (40) war mal beim Schreibenden im Deutsch-Kurs. Sie drückt sich in dieser Sprache fliessend aus. Auch war sie Englisch-Lehrerin. Ihre Muttersprache freilich ist Türkisch. Aus ihrem bewegten, oft dramatischen Leben erzählt sie mit grosser Offenheit.
In ländlichem Umfeld im Westen der Türkei aufgewachsen, erlebte Fatma Aydin die Landwirtschaft, nahm aber einen anderen Weg.
Als Jüngste konnte sie eine Schul-Laufbahn antreten. Was allerdings bedeutete, dass sie mit zwölf Jahren in die Stadt kam, allein, und im Studentenwohnheim ganz für sich sorgen musste.
Die Türkei hat eine unruhige Geschichte. Zwei Putschs spielten auch für Fatma eine wichtige Rolle: Der von 1997 führte eine Verweltlichung, Trennung von Kirche und Staat herbei; der gescheiterte von 2016 gegen Erdogan dann in die entgegengesetzte Richtung. Zunächst lebte Fatma in einer Gesellschaft, die Mädchen – viel mehr als Knaben – einschränkte: «Mädchen hatten sich an Regeln zu halten.» Doch ihre Familie akzeptierte ihre Entscheide, auch den, das Kopftuch zu tragen. Nach dem ersten Putsch wurde dieses indessen in den Schulen und Universitäten verboten. Im Gegensatz zu vielen Frauen verfolgte Fatma aber ihre Ausbildung. Statt Ärztin, wie sie zuerst dachte, wurde sie Englisch-Lehrerin.
Die Qualität der Bildung war damals gut, sagt Fatma. Sie durchlief renommierte Schulen; für diese musste man sich allerdings qualifizieren. Prüfungen stellten hohe Hürden dar. Sie entschieden darüber, welche Universität man besuchen konnte, welche Lehrer:innenstelle man später bekam. So konnte Fatma zwar vorerst ihre Stelle wählen; später aber zog sie mit ihrem Mann, dem vom Staat eine Stelle angewiesen wurde, in den Osten des Landes. Es galt, die benachteiligten Regionen zu stärken. Heute sei die Bildungssituation in der Türkei durch Reformen verschlechtert. Mehr islamische Schulen, weniger Junge an den Unis, viele mit untauglichem Protestverhalten; eine gefährdete Gesellschaft, findet Fatma. Ihre Familie lebt immer noch dort …
Fatma wurde vom zweiten Putsch hart getroffen. Sie wurde von der Regierung Erdogans nach sechs Jahren im öffentlichen Dienst entlassen, wie viele gut Ausgebildete. Sie war eben noch offiziell belobigt worden, da galt sie plötzlich als «Terroristin». Sie setzte sich für ihre Rechte ein; doch die Gerichte drückten sich um Urteile. «Mein Fall dauert immer noch», sagt sie acht Jahre später. Die Pässe der Familie wurden blockiert; sie entschlossen sich zur Flucht, illegal, abenteuerlich. Auch in Griechenland konnten sie nicht bleiben – sie drohten von Türken zurückgeholt zu werden.
Seit 2018 führt Fatma mit ihrem Gatten, ebenfalls Lehrer, und den zwei Kindern hier «ein neues Leben». Auch hier hat sie nicht nur Erfreuliches erfahren. Das Anerkennungs-Verfahren war mühsam, die B-Bewilligung liess zweieinhalb Jahre auf sich warten. Zwei Asylzentren: Da mussten sie sich an ein schwieriges Zusammenleben mit andern gewöhnen. Von zuhause waren sie, räumt Fatma ein, einen anständigen Standard gewohnt.
In Moutier erhielten sie erstmals eine Wohnung. Fatma brachte sich Französisch bei, im Internet und dann mit Unterstützung des Asylzentrums. 2021 konnten sie in die Region Bern ziehen und ein Stipendium erhalten. Die Uni bot ihr «Kompass»-Programm für gut ausgebildete Migrant:innen an. Nun ging die schwierige Stellensuche los. Denn der Sozialdienst würde ein Studium unterstützen – sofern man eine Teilzeit-Anstellung vorweisen kann.
Fatma Aydin hat zwar versucht, als Lehrerin angenommen zu werden; doch das Kopftuch bildet ein grosses Hindernis. Darum hat sie sich auf Software-Testing verlegt. Nach vielen erfolglosen Bewerbungen hat sie – kürzlich – einen «Arbeitseinsatz» (ein Praktikum) gefunden. «Man muss nicht aufgeben», bleibt ihr Motto.
Nur mit Mühe Arbeit finden – und trotzdem sich einsetzen, im freiwilligen Bereich halt. Da gibt Fatma Aydin ein vorbildliches Beispiel. Der Bildungs- und Kultur-Verein «Mosaik» macht Angebote für Kinder und Erwachsene, Schwerpunkt Integration. Fatma hat zunächst mit dem Gründer zusammengearbeitet. Sie führte Integrationskurse auf Deutsch und Türkisch. Jetzt ist sie Präsidentin des Vereins.
Die Lebens- und Karrierewege von Shokan und Fatma, gekennzeichnet von Brüchen, überraschenden Wendungen, Enttäuschungen, Hoffnungen und Neuanfängen, lassen einen aufrichtig staunen – über die Unvorhersehbarkeit des Lebens, über den Stellenwert von Beruf und Ausbildung und über die Wege zur beruflichen und sozialen Integration in der Schweiz.
Was man von unseren Gesprächspartnern lernen kann, ist, dass es nicht nur einen Weg zum Erfolg gibt, dass man aber vorwärtsgehen muss. Unsere besten Wünsche sollen sie dabei begleiten.