Köppel, Kleiner und die Frage: Wieviel Wahrheit braucht der Staat?

Köppel, Kleiner und die Frage: Wieviel Wahrheit braucht der Staat?

Die Wahrheit ist, was die Mehrheit denkt – das sagt Roger Köppel und provoziert damit am 2. Forum Fokus Ethik. Ein Essay zur Frage, wieviel Wahrheit der Staat braucht von Livia Thurian.

Essay von Livia Thurian (22)

Livia Thurian. – Bild: Jana Daepp
Livia Thurian fragt nach der Wahrheit. – Bild: Jana Daepp

Ich möchte gerne mit einem philosophischen Problem beginnen – einem Dilemma. Warum eigentlich noch ein Dilemma erschaffen, wenn wir bereits vor einem riesigen Problem stehen – dem Wahrheitsbegriff? Weil es um die Frage geht, wie viel Wahrheit der Staat braucht. Und da ergibt sich für mich bereits nach kurzem Nachdenken ein Dilemma.
Ein Dilemma – auf altgriechisch dilēmmatos, «aus zwei Sätzen bestehend» – ist bekannt dafür, zwei Handlungsmöglichkeiten zu lassen, wobei aber beide negative Konsequenzen haben. Deshalb ist so eine Situation eine Zwickmühle. Die beiden Handlungsmöglichkeiten im Dilemma heissen auch «Hörner».

 

«Die Wahrheit ist, was die Mehrheit denkt», sagte Roger Köppel am Forum Fokus Ethik. – Bild: Walter Winkler
«Die Wahrheit ist, was die Mehrheit denkt», sagte Roger Köppel am Forum Fokus Ethik. – Bild: Walter Winkler

Um das Dilemma aufzustellen, braucht es erst mal eine These. Und hier ist sie auch schon: Die Wahrheit ist, was die Mehrheit denkt. Roger Köppel, SVP-Nationalrat, ist dieser Meinung und schockiert damit die Anwesenden im Saal. Köppel findet, in einer richtigen Demokratie bestimme alleine das Volk, was richtig und was falsch sei. Also: was Wahrheit ist. Einer der Zuschauer äussert dazu Bedenken: Sei dies denn nicht eine zu einseitige Haltung?

Horn 1: Mal angenommen, wir sprechen dem Volk alle Macht zu. Dies hiesse aber, dass moralisch höchst verwerfliche Gesetze eingeführt werden könnten, bloss weil eine Mehrheit des Volkes dafür wäre. Todesstrafe? Nein danke! «Schweizerrecht» vor Völkerrecht? Rüdiger Safranski hatte sogar das Beispiel gebracht, dass Adolf Hitler in Deutschland ja auch vom Volk gewählt worden sei.
Aber betrachten wir noch das andere Horn des Dilemmas:

Horn 2: Was ist, wenn allein der Staat bestimmt, was «Wahrheit» ist? Was, wenn dem Individuum keine Autonomie mehr in seinem Wahrheitsempfinden gewährt wird? Das ist Diktatur.
Was also brauchen wir? Wie viel Wahrheit braucht der Staat?

Flavia Kleiner ist für den Mittelweg. – Bild: Walter Winkler
Flavia Kleiner hälts mit John Stuart Mill. – Bild: Walter Winkler

Flavia Kleiner, Co-Präsidentin der «Operation Libero», schlägt einen Mittelweg vor. Sie zitiert John Stuart Mill, den berühmten liberalen Denker aus dem 19. Jahrhundert: Alle Macht solle vom Volk ausgehen, aber diese Macht solle vom Staat beschränkt werden. Und zwar dann, wenn die Freiheit eines Bürgers die Macht eines anderen einschränke. Für mich passt dies am ehesten zu einer wahrheitssuchenden Gesellschaft.

Alle Macht solle vom Volk ausgehen, aber diese Macht solle vom Staat beschränkt werden.

Die Lösung des staatlichen Wahrheitsdilemmas ist also: Der einzelne Bürger ist nicht allwissend, trotzdem soll er aber ein Stück Verantwortung übernehmen und sich auf Wahrheitssuche machen. Der Staat spielt ebenso eine wichtige Rolle: Er soll den Bürger nicht zu stark bevormunden, aber dennoch ein paar rechtliche Richtlinien vorgeben, die den Weg zur Wahrheit vereinfachen.

 


Forum zu ethischen Fragen

Das Forum «Fokus Ethik» fand am 6. und 7. April 2017 zum zweiten Mal statt. Das Thema in diesem Jahr: Hauptsache Wahrheit. Jung und Alt von UND Generationentandem verfolgten die Referate und Diskussionen von renommierten Fachpersonen aus dem In- und Ausland.

Jürg Krebs und Livia Thurian waren am dritten Forum Fokus Ethik und haben dort versucht, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Einen Dialog der beiden zum Thema lesen sie hier.

Erfahren Sie hier, was Anna und Fritz von der Wahrheit halten.

Gedanken zum Referat von Rüdiger Safranski von Jürg Krebs lesen Sie hier.

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