
Wie viel wissen wir wirklich über die Geschichten unserer Grosseltern – und was bedeutet das für unser eigenes Leben? Ein Generationentandem setzt sich mit der Frage auseinander, warum es sich lohnt, die Lebensläufe der Vorfahren zu entdecken. Die Grundlage des Austauschs bildet das Buchprojekt von Geraldine Konrad-Maier , das die Biografien ihrer Grosseltern festhält.
Heinz Gfeller (76)
Drei Grosseltern hatte ich. Der Vater meiner Mutter war «verschwunden»; sie, seine Tochter, hatte ihn bereits nicht gekannt. Ihre Mutter aber – «Grosmamme» aus St. Gallen, später Zürich – hat über 20 Jahre im Haus meiner Eltern gewohnt; sie kannte ich am besten. Die Eltern meines Vaters lebten auf dem Dorf, im Emmental; bei ihnen durfte ich Ferien verbringen.
Was weiss ich von ihnen, die ich nur als alte Menschen angetroffen habe? Ich kann sie vor mein «geistiges Auge» holen, ohne Hilfe eines Fotoalbums. Auch ihre Umgebung – vor allem das Haus mit dem Pultdach im Emmental – sehe ich in Bruchstücken noch. Das Büro des Grossvaters (Grosvati) mit den Karten des Kantons Bern, welche er nach den Resultaten sämtlicher Volksabstimmungen ausmalte. Die Küche seiner Gattin (Grosmueti), dazu das Tischgebet. Die Stube der andern Grossmutter, wo der erste Fernseher stand, zu dem wir oft zugelassen waren.
«Heute, wo ich vieles über meine Vorfahren wissen möchte, kann ich sie nicht mehr fragen.»
Heinz Gfeller
Aber was weiss ich von ihrem Leben, dem langen vor meiner Zeit? Und allenfalls von dem, was auf mich übergegangen wäre? Grossvater war Sek-Lehrer – typisch für unsere Familie. Doch die zwei Frauen: Hatten sie einen Beruf gelernt? Und wie sind die Paare zusammengekommen? Wie hat die Ehe der einen funktioniert? Wie hat andererseits die sehr lange Alleinstehende sich durchs Leben geschlagen? Sehr vieles ist mir unbekannt – wir haben nicht darüber geredet.
Heute frage ich mich: Hat mich das nicht interessiert? Könnte sein – in den bewegten jungen Jahren, wo mir Familie zwar zuhause selbstverständlich, aber in ihren weiteren Ausläufern nicht wichtig war. Es zählten die Freunde, die selbst erworbenen, die «Beziehungen». Und die Vergangenheit? Die Geschichte, die Politik, ja; doch der Alltag früherer Generationen? «Schnee von gestern». Heute, wo ich vieles über meine Vorfahren wissen möchte, kann ich sie nicht mehr fragen.
Zu spät. Ein geläufiges Gefühl, auch in der aktuellen Literatur. Wer schreibt nicht alles – häufig über seine Eltern; aber oft nach deren Tod. Sprechen die Lebenden nicht miteinander? Unsere Grosmamme hat sich immerhin nach meinem Leben erkundigt! Verharren Generationen, die neuen besonders, in ihren Blasen? Diese Fragen drängen sich mir auf; ihr, liebe Leser:innen, werden sie wohl ganz unterschiedlich beantwor-ten.
Ich habe bei meinen Lehrer-KollegInnen jeweils das Projekt bewundert, in dem sie die Schüler:innen «Ahnenforschung» betreiben liessen: Befragt eure Grosseltern, hört ihnen zu! Im gleichen Sinn finde ich dein Vorhaben, Geraldine, vorbildlich.
Geraldine Konrad-Maier (26)
Schon als kleines Mädchen faszinierten mich die Erzählungen meiner Grosseltern – ein Bann, der bis heute anhält. Während ich längere Zeit im Ausland auf Reisen war, entwickelte ich den Wunsch, die Geschichten und Erfahrungen meiner Grosseltern zu bewahren. Nach meiner Rückkehr in die Schweiz setzte ich dieses Vorhaben auch gleich gemeinsam mit meiner Schwester um.
«Bevor ich mich der Frage stelle: Wer bin ich?, wollte ich wissen: Woher komme ich?»
Geraldine Konrad-Maier
Wir besuchten meine Grosseltern regelmässig und widmeten uns bei jedem Treffen einem anderen Lebensabschnitt – von der Kindheit über den Berufseinstieg bis zur Pensionierung. Mit einem Mikrofon hielten wir die Gespräche fest und konnten so die vielen spannenden Erzählungen einfach archivieren. Auf meiner zweiten Auslandreise begann ich, alle Tonaufnahmen zu transkribieren. Ich ordnete die Geschichten und spürte dabei immer stärker den Wunsch, die Erfahrungen meiner Grosseltern auch kommenden Generationen zugänglich zu machen. Als ich wieder zurück in der Schweiz war, entwickelten meine Schwester und ich das Ziel, aus den Geschichten unserer Grosseltern ein Buch zu gestalten – eine Biographie, die wir ihnen zu ihrem 80. Geburtstag überreichen wollten.
Schnell wurde uns klar, dass wir unsere Grosseltern in unser Projekt einbeziehen mussten, damit sie uns bei der Ausarbeitung und Fertigstellung des Buches unterstützen konnten. Denn immer wieder tauchten Fragen auf: Haben wir diese Erzählung richtig verstanden und notiert? Wer war noch mal diese und jene Person? Wie hat dieses Erlebnis genau begonnen beziehungsweise geendet? Diese und viele weitere Fragen begleiteten uns fast ein Jahr, in dem wir im Austausch mit unseren Grosseltern zahlreiche Details klären konnten. Schliesslich war der Moment gekommen, in dem wir mit dem Manuskript zufrieden waren, und gleichzeitig rückte der 80. Geburtstag immer näher. Damit wir das Buch rechtzeitig an der geplanten Feier übergeben konnten, musste es nun in den Druck. Leider hielt die Druckerei ihre Lieferfrist nicht ein, sodass wir das Buch nicht wie geplant an der Geburtstagsfeier überreichen konnten. Aber die Freude und Begeisterung über das fertige Produkt war auch einen Monat später noch unglaublich gross, als wir alle das fertige Werk in den Händen hielten.
Meine Schwester Fabienne und ich brachten im Jahr 2021 dieses Projekt gemeinsam ins Rollen. Über den Zeitraum von etwas mehr als vier Jahren entstand dieses Buch nach und nach, Kapitel für Kapitel. Durch diese Arbeit erhielten wir einen bewegenden Einblick in das Leben unserer Grosseltern. Dabei erkannten wir auch, wie unterschiedlich manche Erlebnisse in unserer Familie wahrgenommen wurden. Jedes Familienmitglied erzählt seine eigene Version der Geschichte, geprägt von ganz persönlichen Gefühlen, Blickwinkeln und Erfahrungen.
Uns ist bewusst, dass dieses Buch nicht alle Facetten des bewegten Lebens unserer Grosseltern abbilden kann. Es ist vielmehr der Anfang eines grossen Puzzles – eines Bildes, das jede:r, der unsere Grosseltern kennt, mit Puzzleteilen in Form von eigenen Erinnerungen ergänzen kann.
Meine Motivation zur Umsetzung dieses Projektes war vielseitig. Ein wichtiger Antrieb war das Bedürfnis, mich intensiver mit meiner Herkunft und Identität zu befassen. Ich stellte mir unter anderem Fragen wie: Welche Charaktereigenschaften haben meine Grosseltern an mich weitergegeben? Oder welche Lebenserfahrungen prägen uns über Generationen hinweg? Dieses Biografie-Projekt war und ist für mich der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis meiner eigenen Geschichte. Bevor ich mich der Frage stelle: Wer bin ich?, wollte ich wissen: Woher komme ich?
«Dieses Buch ist vielmehr der Anfang eines grossen Puzzles.»
Geraldine Konrad-Maier
Was bleibt? Das Projekt hat meine Beziehung zu meiner Herkunft und meiner Familie auf eine neue, tiefere Weise gestärkt. Beim Eintauchen in die Geschichten meiner Grosseltern habe ich viel von ihnen in mir wiederentdeckt: die offene Art auf Menschen zuzugehen und Beziehungen zu pflegen, die Bereitschaft, sich für die Gesellschaft zu engagieren und sich neugierig auf Neues einzulassen. Ebenso teile ich ihre Freude an Fremdsprachen, die Liebe zu gutem Essen und die Freude am gemeinsamen Geniessen. Als besonders prägend empfinde ich jedoch ihre grosse Lebensfreude und ihr unglaublich starkes Vertrauen ins Leben. Diese positive und zuversichtliche Haltung spüre ich ebenfalls als Erbe in mir, wofür ich sehr dankbar bin.
Ich bin überzeugt, dass Gespräche mit den Grosseltern für alle Beteiligten eine grosse Bereicherung sind. Wichtig ist dabei ein ehrliches Interesse an der Familiengeschichte und die Offenheit, mehr über sich selbst zu lernen.